Sonntag, 28. April 2002

Golf

Ein seltsamer Geruch strömte eines morgens durch das geöffnete Schlafzimmerfenster. Es roch irgendwie ungewohnt - scharf, genau es war Polyester. Ein Blick aus dem Fenster verriet mir sofort den Absender dieses Duftes: direkt unter meinem Fenster wird gearbeitet, sozusagen eine Werkstatt am Gehsteig. Meine verschlafenen Augen orten einen Werkzeugkasten (Eduscho 19,90), ein Schraubenzieherset (Komm und Kauf 5,90), jede Menge Glasfaser und Polyester (vermutlich Bauwelt oder PS Markt, Preis unbekannt). Das alles fein säuberlich angeordnet um ihn. Er ist ein Golf (Typ 1, Baujahr vor 1980, 4 türig, grün). Waren das noch Zeiten: klassisch kantig gab sich dieses bereits zum Kultobjekt erhobene Auto damals noch, in edlen Farbtönen war er damals erhältlich (eben dieses laubfroschgrün, daneben noch karminrot, orange, gelb und himmelblau), kein Vergleich zu den heute eher düster traurigen Autolacken wie Anthrazit, Midnight Blue,...Eine Person darf bei dieser Szene natürlich nicht fehlen: Der Autotuner (auch Polyesterer oder Zangler genannt). Mitte vierzig, Stammkunde bei Daniels Likörstube gleich nebenan, der Haarschnitt von Studio Renee (Thaliastrasse), vorne kurz (bzw. angehende Glatze) hinten etwas länger, dauerhafte Oberarmbemalung von Jimmy's Tattoo Shop (Wattgasse), Trainingsanzug (hochglanz violett) von Zielpunkt (Thaliastrasse). Als ich das Haus verlasse, ist bereits der Kühlergrill abmontiert, die Stossstange liegt daneben am Gehsteig - zwei weitere Stamkunden von Daniels Likörstube schauen beim Tuning zu, ein Hund ist auch dabei. Gegen sechs komme ich zurück und kann bereits einen Arbeitsfortschritt erkennen: anstatt der dünnen original schwarzen Plastikstossstange prangt bereits ein neues Teil vorne unterm Kühlergrill. Gegenüber der alten Stange hat es bedeutend mehr Volumen, es wirkt fast futuristisch an der sehr nüchtern gehaltenen Karosserie. Gleich einem Schneepflug gestattet es nur mehr wenige cm Bodenfreiheit, in der Mitte leicht zugespitzt mit Auslassungen für die Zusatzscheinwerfer. Im Detail wirkt das Ding noch etwas unausgereift, fast grob. Es riecht noch nach Polyester. Von nun an wird jeden Tag gearbeitet. Der von jetzt an eingesetzte Winkelschleifer wird von Daniels Likörstube aus gespeist, fachkundige Hinweise erteilen deren Stammkunden. Fast eine Woche wird jeden Tag geschliffen, polyestert, geschraubt. Am Freitag beginnt das grosse Finish: eine ganze Palette Farbspraydosen (FCKW frei??, PS Markt um 7,90/ Dose) steht bereit. Klack-klack-klack-klack-pfffffffft geht es von nun an fast drei Tage. Mehrere Schichten Lack müssen aufgetragen werden, damit aus dem originalgrün ein baufahrzeuggelb wird. Dem Innenraum wird der letzte Schliff verpasst: Türgriffe und Schalthebel in zartem Mint, Sportlenkrad und Handyhalter werden montiert. Zu futer letzt bekommt der Golf noch einen mattschwarzen Streifen und sieht jetzt ähnlich aus wie der Faule Willi, ein Kennzeichen mit der Aufschrift "W-Ernst 60" ziert den Wagen. Vor der Jungfernfahrt noch schnell ein Foto und auf gehts, zuerst zum Würstelstand und dann in die Videothek.

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